Das vergebliche Rufen nach dem digitalen Narrativ

Die Welt verändert sich und wir fragen uns: Wohin führt das? Auf sinnstiftende Antworten aus der Politik sollten wir nicht hoffen.

Manuel Kilian
5 min readNov 28, 2017

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Die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft stellt uns vor große, wichtige Fragen: Was passiert, wenn zentral organisierte Institutionen von Netzwerken abgelöst werden? Wie kann bei all den Veränderungen in der Arbeitswelt die ganze Gesellschaft am Wohlstand teilhaben? Und was ist unsere Rolle auf diesem Planeten, wenn unser Intellekt der Künstlichen Intelligenz nicht mehr gewachsen ist?

Große Fragen brauchen große Antworten, die jeder versteht. Oder um es mit einem in die Mode gekommenen Begriff zu sagen: Diese gesellschaftlichen Fragen brauchen ein Narrativ, also eine sinnstiftende Erzählung, die Werte und Emotionen transportiert und Einfluss darauf hat, wie wir unsere Umwelt wahrnehmen.

Fehlt dieses Narrativ als Fixpunkt, werden sich Teile der Gesellschaft zwangsläufig fragen: Wozu das Theater, früher war doch alles besser! Die Flucht in die Vergangenheit kann aber nie eine Lösung sein, um zukünftige Veränderungen zu gestalten.

Wo ist es also, das digitale Narrativ, diese Meta-Erzählung, die uns den Weg in die Zukunft vorzeichnet? Leichter zu beantworten ist die Frage, wo es nicht zu finden ist: in der deutschen Politik. Es ist bemerkenswert, wie sich Politiker in Deutschland großen Ideen für die Zukunft verweigern, während sich Kommunikation, Arbeitsleben und Gesellschaftsstruktur grundlegend verändern.

Das Gesellenstück dieser Ideenlosigkeit war der Bundestagswahlkampf. Politikberater Frank Stauss analysierte, dass die Parteien bei der Aufgabe, unserer Gesellschaft einen Weg in die Zukunft aufzuzeigen, allesamt versagten:

Keiner Partei ist es gelungen, eine stimmige Zukunftsvision zu präsentieren. Einen großen Wurf, der über die Aneinanderreihung von Einzelthemen hinausgegangen wäre.

Bildrechte siehe CDU

Mit dem sedativen ‘Für ein Land, in dem wir gut und gerne leben’ gewann die CDU die Wahl. Dabei wäre es so wichtig gewesen, dass die stärkste Partei Aufbruchsstimmung vermittelt, damit die Gesellschaft nicht in eine Angststarre verfällt vor den Herausforderungen, die auf uns zukommen.

Mit der FDP war da zwar eine Partei, die sich ‘Digital first, Bedenken second’ auf die Fahnen schrieb. Aber bei diesem Slogan blieb es auch. ‘Denken wir neu’, der Untertitel der Wahlplakate, fand nicht statt: Wertebasierte, mitreißende Ideen für eine digitale Gesellschaft, die eben nicht in 140 beziehungsweise 280 Zeichen passen, konnte oder wollte die FDP nicht einbringen.

Bildrechte siehe Der Spiegel

Das Narrativ, worum es in den vier Jahren der nächsten Legislaturperiode gehen soll, ergab sich auch nicht aus den Sondierungen zur Jamaika-Koalition. Und so bleibt der Eindruck, dass die Koalition auch deswegen nicht zustande kam, weil viel über Einzelthemen gestritten wurde — und wenig über eine gemeinsame Geschichte für das Land, an die die Verhandler glauben und den Wählern hätten vermitteln können.

Und die SPD? Die digitale Transformation hat viel mit Gerechtigkeit zu tun, damit, wie die gesamte Gesellschaft am Wandel teilhaben kann. Im Wahlkampf der Sozialdemokraten konzentrierte sich die Gerechtigkeitsdebatte wenig zukunftsweisend auf die Verlängerung des Arbeitslosengeldes I. Dafür erklärte Andrea Nahles einige Tage nach der verlorenen Wahl den digitalen Kapitalismus zum Feind — und zeigt , dass sie keinerlei Vorstellungen von einer digitalen Zukunft hat.

Bildrechte siehe WELT

Zugegeben: Die deutsche Politik hat selten mit mitreißenden Narrativen geglänzt.

Auch deswegen wünschte sich Bundespräsident Roman Herzog vor 20 Jahren einen ‘Ruck’, der durch Deutschland gehen solle. Und mit seiner ‘Ruck-Rede’ legte er den Finger in die Wunde:

Ich komme gerade aus Asien zurück. In vielen Ländern dort herrscht eine unglaubliche Dynamik. (…) Kühne Zukunftsvisionen werden dort entworfen und umgesetzt, und sie beflügeln die Menschen zu immer neuen Leistungen.

Was sehe ich dagegen in Deutschland? Hier herrscht ganz überwiegend Mutlosigkeit, Krisenszenarien werden gepflegt. Ein Gefühl der Lähmung liegt über unserer Gesellschaft.

Die Rede könnte man heute fast wortgleich halten. Herzog wollte damals wachrütteln, die Politik ermutigen, Visionen zu formulieren, die Lust machen auf die gemeinsame Zukunft.

Als John F. Kennedy in der 1960er Jahren den Wettlauf zum Mond aufrief, mobilisierte er ein ganzes Land: Da war der kollektive Wille, ein Ziel zu erreichen. Und der Glaube an technologischen Fortschritt, der den Weg dorthin ebnet. Warum schafft es niemand im politischen Berlin, die Gesellschaft einzuschwören auf so ein klares Ziel? Und aufzuzeigen, wie wir die Digitalisierung nutzen, um eben dieses zu erreichen?

Das Wachrütteln eines Roman Herzogs wäre also auch zwanzig Jahre nach der ‘Ruck-Rede’ nötig. Zugleich sollten wir nicht viel erwarten : Es ist wahrscheinlich, dass mit Angela Merkel als Bundeskanzlerin für vier weitere Jahre der Status Quo verwaltet wird anstatt mutig in die Zukunft zu blicken. Bei all ihren Verdiensten ist Merkel eine Regierungschefin, die es in den vergangenen zwölf Jahren nicht geschafft hat, ein Narrativ zu formulieren und es der Gesellschaft zu vermitteln. Weder in der Europapolitik, noch in der Flüchtlingspolitik. Bei der Digitalisierung schon gar nicht.

Dass die Rufe nach einem digitalen Narrativ in der Politik ungehört bleiben, bietet auf der anderen Seite Chancen für gesellschaftliche Kräfte, das narrative Vakuum mit sinnstiftenden Ideen zu füllen.

Am besten geht das im Austausch miteinander — und zwar nach Möglichkeiten zwischen technologischen Vordenkern und all jenen, die mit ihrer Arbeit in die Gesellschaft wirken. Leitgedanke hierbei kann sein, wie wir die Digitalisierung gestalten, damit die Generation unserer Kinder ein besseres Leben hat als wir. Das nämlich ist die große Versprechung der liberalen Ordnung, auf der unsere Gesellschaft und Wirtschaft ruht.

Für diesen Austausch bedarf es einer Plattform, auf der Kirchen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, Wohlfahrts- und Sozialverbände mit Menschen zusammenkommen, die mit ihren digitalen Innovationen die Gesellschaft verändern. Das baut Berührungsängste ab und schafft gegenseitiges Verständnis dafür, wie die Digitalisierung im Sinne der Gesellschaft gestaltet werden kann — und zahlt somit ein auf ein großes, digitales Narrativ, das aus der gesellschaftlichen Mitte kommt.

Auch der Politik könnte das den Mut geben, endlich den Blick nach vorne zu richten.

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Manuel Kilian

Founder and CEO of www.govmind.tech — we bridge the gap between governments and innovation